„Sieg des Sozialismus“. Die „Stalin-Verfassung“ und der „Große Terror“
Von Christian Schmitt
Während Verfassungsänderungen und der schleichende Umbau von Staaten und Gesellschaften nicht zuletzt in Anbetracht der aktuellen Entwicklungen in der Türkei so aktuell sind wie lange nicht mehr, lässt sich das Verständnis für solche Zusammenhänge gut anhand historischer Ereignisse wecken. Ein Beispiel hierfür ist die Einführung der sowjetischen Verfassung im Jahr 1936, auf die mit dem „Großen Terror“ eine bis dahin beispiellose Welle politischer und ethnischer Säuberungen folgte. Ein Unterrichtsvorschlag in der Zeitschrift „Praxis Geschichte“ umfasst elf Materialien zu dieser Thematik und ist für zwei bis vier Schulstunden in den Jahrgangsstufen 9 bis 12 konzipiert. Ziel ist es, dass Schüler_innen Unterschiede zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungsrealität erkennen und sich mit kontroversen Urteilen „sowohl auf der Ebene der Zeitgenossenschaft als auch auf der Gegenwartsebene“ (S. 19) auseinandersetzen.
Stalins „Demokratie für alle“
Die erste Arbeitsphase sieht vor, den Kurs in zwei Gruppen aufzuteilen. Beide Gruppen erhalten dasselbe Verfassungsschaubild sowie jeweils einen Abschnitt aus dem Gesetzestext und einen Auszug aus einer Rede Stalins aus dem November 1936. Ein Teil der Schüler_innen setzt sich mit Kapitel I der Verfassung auseinander, welches den Gesellschaftsaufbau der Sowjetunion festlegt und dabei die „Macht der Werktätigen“, das „sozialistische Eigentum“ als ökonomische Grundlage des Staates sowie die Arbeit als „Pflicht und Ehrensache eines jeden arbeitsfähigen Bürgers“ (S. 20) betont. Im Auszug aus seiner Rede konstruiert Stalin eine Entwicklung, die seit 1924 zur Auflösung aller ökonomischen und politischen Klassengegensätze geführt habe.
Die zweite Gruppe liest Abschnitte aus Kapitel 10 der Verfassung, das die Grundrechte und -pflichten der Sowjetbürger_innen benennt. Es garantiert ihnen Rede-, Presse-, Kundgebungs- und Versammlungsfreiheit sowie die Freiheit von Straßenumzügen und Demonstrationen. Das Recht zur Vereinigung in gesellschaftlichen Organisationen ist mit dem Zusatz versehen, dass „die aktivsten und zielbewusstesten Bürger […] sich freiwillig in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion“ (S. 21) zusammenschließen. Die Gruppe liest Ausführungen Stalins, in denen dieser das Einparteiensystem in der UdSSR zu einer „Demokratie für alle“ erklärt. Das Verschwinden der Klassen mache die Parteien obsolet, während die Mehrparteiensysteme kapitalistischer Staaten der Ausbeutung der Arbeiter- und Bauernklasse dienen würden. Die Schüler_innen beider Gruppen sind dazu angehalten, die Quellen zu analysieren und im Anschluss Stalins Ausführungen mit dem Schaubild und dem Verfassungstext zu vergleichen.
Kontroverse Historikerurteile
Ein Arbeitsblatt zum „Großen Terror“ beinhaltet den Einsatzbefehl vom Juli 1937, der „Repressionen gegen ehemalige Kulaken, aktive antisowjetische Elemente und Kriminelle“ (S. 22) instruiert. Eine Tabelle zeigt nebeneinander die im Befehl vorgegebenen Erschießungs- und Verhaftungsquoten sowie die in der Realität erzeugten ungleich höheren Zahlen. Die Schüler_innen sollen Hypothesen über die Gründe dieser Abweichung aufstellen. Es finden sich außerdem eine sowjetische Karikatur sowie das zeitgenössische Urteil eines amerikanischen Sozialisten, der sich 1937 in Russland aufhielt. Er beschreibt dort die oftmals auf Verleumdung basierende Systematik der Säuberungen und die Auswirkungen auf die anschließend sozial isolierten Familien der Verhafteten. Die Arbeitsaufträge sehen unter anderem die neuerliche Bewertung der „Stalin-Verfassung“ vor dem Hintergrund der Ausmaße des „Großen Terrors“ vor.
Eine optionale Erweiterung der Unterrichtseinheit umfasst spätere Urteile der Historiker Gerd Koenen und Karl Schlögel, die sich in ihrer Auffassung von Ursache und Wirkung von Verfassung und „Großem Terror“ unterscheiden. Während Koenen die sowjetische Verfassung als direktes Mittel zur Legitimation der bevorstehenden Säuberungen bewertet, sieht Schlögel einen etwas komplexeren Zusammenhang, der den Terror als Mittel zur Vorbereitung der Wahlen vom Dezember 1937 sieht. Für die in der Verfassung garantierten „allgemeine[n], freie[n und] geheime[n] Wahlen“ sollten demnach durch die „gezielte Liquidation potentieller Herausforderer“ (S. 23) schlicht alle politischen Alternativen beseitigt und das gewünschte Wahlergebnis garantiert werden. Die Lernenden sollen sich mit den Historikerurteilen kritisch und vergleichend auseinandersetzen, um anschließend über Terror und den Traum einer klassenfreien Gesellschaft als zwei Seiten der vermeintlich selben Medaille zu diskutieren.
Zusammenfassung
Die vorgestellte Unterrichtseinheit spielt zwei nennenswerte Stärken aus: Zum einen macht sie durch eine schlüssige Zusammenstellung der Quellen (Verfassungstext, Stalinrede, Einsatzbefehl) Zusammenhänge zwischen der Formulierung einer Verfassung sowie ihrer Legitimierung und Auslegung greifbar, zum anderen sensibilisiert sie durch die beiden Historikerurteile für die Kontroversität in der Beurteilung dieser Zusammenhänge und verhindert dadurch den Eindruck historischer Eindeutigkeit. Auch wenn darüber hinaus vielleicht Eindrücke aus der Perspektive unmittelbar Betroffener noch wünschenswert gewesen wären, um die Ausmaße des Terrors noch mehr zu verdeutlichen, ist das Unterrichtsmaterial absolut eine Empfehlung wert.
Der Unterrichtsvorschlag stammt aus Heft 1/2012 von „Praxis Geschichte“ und ist für 2,50 Euro als Download im Online-Shop des Westermann-Verlags verfügbar. Im Mai erscheint Heft 3/2017 von „Praxis Geschichte“ zum Thema „Russische Revolution“.